ich hab grad keine zeit den copy&paste "müll" zu löschen. sry.
https://www.spiegel.de/panorama/stromausfall-wie-ein-mann-deutschland-vor-dem-blackout-bewahrte-ohne-dass-es-jemand-mitbekam-a-dc3fa499-0002-0001-0000-000176138629Chronik einer dramatischen Notfalleinsatzes
Der Mann, der Deutschlands Stromnetz rettete
Spekulanten bedrohten am 12. Juni 2019 mehrere Stunden lang die deutsche Stromversorgung. Ein junger Ingenieur konnte das System mit großer Not stabil halten. Wie hat er das geschafft?
Von Uwe Buse
05.03.2021, 13.59 Uhr
Strom aus der Steckdose, das ist eines der Wunder, an die wir uns gewöhnt haben. Strom ist verfügbar, wann immer wir wollen, so viel wir wollen; das deutsche Stromnetz gehört zu den verlässlichsten der Welt.
Wie sehr unser Leben von der Elektrizität abhängt wird sichtbar, wenn die Versorgung plötzlich gefährdet ist. Wenn großflächig ein Stromausfall droht, über einen längeren Zeitraum, aus ungeklärter Ursache. Wie am 12. Juni 2019, als Deutschland einem »Brownout«, so nennen Fachleute einen gesteuerten Blackout, so nahe kam wie selten.
Der 12. Juni war ein Mittwoch, und dass die Versorgung an diesem Tag nicht zusammenbrach, lag auch an einer außerordentlichen Leistung, erbracht vor allem von einem 27-jährigen Ingenieur. Sein Name darf nicht genannt werden, er darf auch nicht fotografiert werden, aus Sicherheitsgründen. Während der Interviews für diesen Text, während der Videocalls, blieb seine Kamera aus, nur seine Stimme war zu hören. Einen Namen braucht der Ingenieur trotzdem. Er soll Max Born heißen.
Born arbeitet in Brauweiler, nahe Köln, in einem Gewerbegebiet, bei einer Firma, die kaum jemand kennt, die aber für Deutschland außerordentlich wichtig ist: Die Amprion GmbH betreibt das zweitgrößte Höchstspannungsstromnetz in Deutschland. Rund 1800 Mitarbeiter erwirtschafteten 2019 einen Umsatz von 14,3 Milliarden Euro.
Amprion zählt zur kritischen Infrastruktur der Nation, die lebenswichtig ist für das Funktionieren des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Das Unternehmen hat im Wesentlichen zwei Aufgaben: Es transportiert Strom über große Entfernungen, sein Netz erstreckt sich über sechs Bundesländer. Und im Fall einer Störung ist es Amprions Aufgabe, die nationalen Gegenmaßnahmen zu koordinieren. Im schlimmsten Fall bedeutet das, alles zu unternehmen, um einen Blackout zu verhindern.
Strom ist Leben, so absolut kann man es sagen. Ohne Strom gibt es kein Licht, keine Heizung, keine Toilettenspülung. Kühlschränke kühlen nicht mehr. Router, die Verbindungen zum Internet halten, sind tot. Ampeln und Geldautomaten fallen aus, ebenso die Kassen in den Supermärkten – von einer Sekunde auf die nächste. Experten schätzen die Kosten eines deutschlandweiten Blackouts auf 0,6 bis 1,3 Milliarden Euro pro Stunde.
Um einen Blackout zu verhindern, wird ein erheblicher Aufwand betrieben. Mehrere Verteidigungslinien schützen das Stromnetz in Deutschland, alle zwei Millionen Kilometer. Die ersten beiden Linien werden von Computern aktiviert, es geht dabei um Sekunden. Die Verteidigungslinien drei und vier liegen in der Verantwortung von Menschen.
Max Born, der junge Ingenieur, der am 12. Juni Dienst hatte, hat Elektrotechnik studiert. Schon in der Schule begeisterte er sich für erneuerbare Energien und die Komplexität elektrischer Netze. Was ihn faszinierte war der Triumph der Technik über die Natur.
Der Ort, an dem Born das deutsche Stromnetz verteidigt, ist ein klimatisierter Saal, der von einem monumentalen Bildschirm beherrscht wird, über 100 Quadratmeter groß. Die Ingenieure nennen diesen Bildschirm »die Welt«.
Er zeigt das Stromnetz in Deutschland und in den Nachbarländern mit seinen Leitungen, seinen Kraftwerken, Umspannwerken, den großen Verbrauchern, seinen Lastflüssen, seinen aktuellen Zustand. Pro Schicht arbeiten drei Ingenieure. Sie blicken von u-förmigen Tischen in der Mitte des Raumes auf die Welt. Die Tische sind bestückt mit Monitoren, Laptops und Telefonen, davor gibt es Bedienfelder mit mehr als 100 Tasten, von denen, abhängig vom Zustand des Stromnetzes, mal mehr, mal weniger leuchten.
Die Ingenieure können sich hineinzoomen in ihre Welt, können jedes Detail genau betrachten und in Sekundenschnelle wieder aufsteigen, um alles von sehr weit oben in den Blick zu nehmen. Anzeigen, die Tachos ähneln, geben in grünen oder roten Skalen Auskunft über den Verbrauch, die Erzeugung von Strom.
Gesprochen wird nur das Nötigste. Die Stimmung, sagt Born, sei gedämpft, konzentriert, der Größe der Aufgabe angemessen. Hin und wieder ertönt ein Gong, Hinweis auf eine Unregelmäßigkeit im Netz.
Born sitzt am Tisch rechts, er ist für die Frequenz des Stromnetzes verantwortlich, für den elektrischen Pulsschlag, an dem Wirtschaft und Wohlstand, Ruhe und Ordnung im Land hängen. Die Frequenz muss bei 50 Hertz gehalten werden, unter allen Umständen, nur dann funktionieren Maschinen, elektrische Geräte verlässlich und ohne Schaden zu nehmen. Nur dann schwingt auch das europäische Verbundnetz – das sich von Dänemark und Polen im Norden bis zur Türkei, Tunesien und Marokko im Süden erstreckt – im Gleichklang und garantiert rund 600 Millionen Menschen Licht, Wärme, Sicherheit.
Der Tag, an dem Born die Stabilität des Stromnetzes rettete, der 12. Juni 2019, habe für ihn um 4.15 Uhr mit dem Klingeln seines Weckers begonnen, so erzählt er es. Born war an diesem Tag zur Frühschicht eingeteilt. Eine Viertelstunde später saß er schon auf dem Rad, er fuhr zügig, nach 40 Minuten traf er am Firmengelände von Amprion ein. Born durchquerte zwei Sicherheitsschleusen, duschte, frühstückte und betrat schließlich den Saal. Es war kurz vor sechs. Er blickte auf die Welt.
Um diese Uhrzeit wird Deutschland werktags wach. Menschen drücken auf Lichtschalter, duschen, kochen Kaffee, föhnen sich die Haare. Der Stromverbrauch steigt steil an, bis kurz nach acht, wenn Deutschland das Haus verlässt. Dann sinkt er wieder, verhalten, um gegen 12 Uhr erneut in die Höhe zu gehen, fast bis zur Morgenspitze, um dann abermals abzufallen, stärker dieses Mal, bis etwa 17 Uhr. Aus diesem Tal geht es dann wieder steil nach oben, ein gutes Stück höher als am Morgen, bis schließlich gegen 20 Uhr, die Menschen sind wieder zu Hause, das Tageshoch erreicht ist und der lange Abstieg in die Nacht beginnt.
Ähnlich vorhersagbar ist der Stromverbrauch am Wochenende. Trotzdem ist es nicht einfach, immer genug Strom zur Verfügung zu stellen. Die Gesetze der Physik verlangen, dass die Menge des produzierten Stroms im Netz stets der Menge des verbrauchten Stroms entspricht. Abweichungen werden nur für sehr begrenzte Zeit in einem sehr engen Rahmen toleriert. Bei Amprion ertönt der Gong, wenn die Frequenz um nur 50 Millihertz vom Soll abweicht, also 49,95 oder 50,05 statt 50 Hertz beträgt.
Um das Netz stabil zu halten, müssen Angebot und Nachfrage ausbalanciert werden. Aber das ist kompliziert, wenn auf der einen Seite rund 42 Millionen Haushalte, 45 000 Industriebetriebe und 3,5 Millionen kleine und mittelständische Unternehmen Strom aus dem Netz ziehen und auf der anderen Seite immer mehr Strom von Windkrafträdern und Photovoltaikanlagen produziert wird.
Vor dem Beginn der Energiewende 1998 wurde die sogenannte Grundlast von Kohle- und Atomkraftwerken gesichert. Für die Bedarfsspitzen waren schnell reagierende Wasser- und Gaskraftwerke zuständig. Strom konnte unabhängig vom Wetter produziert werden.
Heute ist das anders. Der Ausstieg aus der Kernenergie nach dem Reaktorunfall von Fukushima, der Ausbau der regenerativen Energien hat Deutschland wieder abhängiger gemacht von der Natur. Wie zügig eine Gewitterfront über Deutschland hinwegzieht, wann genau über Brandenburg die Wolkendecke aufreißt und die Sonne sich zeigt, hat Auswirkungen auf die Stromproduktion. Wechselhaftes Wetter, wie an jenem 12. Juni 2019, macht den Balanceakt zwischen Stromproduktion und -verbrauch noch komplizierter als ohnehin schon.
Gegen neun Uhr fehlen plötzlich 2000 Megawatt, die Leistung von zwei Atomkraftwerken.
Ein Kollege teilte Born zum Schichtbeginn mit, »dass der Regelbedarf in der Nacht sehr volatil gewesen« sei, weil die Wetterprognosen ungenauer waren als sonst. Die Ursache: ein Tief über Norddeutschland, verbunden mit Gewittern.
Es war in der Nacht nicht einfach gewesen, das Netz im Gleichgewicht zu halten. Automatische Sicherungen hatten sich aktiviert, die Ingenieure hatten zusätzliche Energie aus Speichern, aus Kraftwerken ins Netz drücken müssen, um die Balance zu halten. Aber noch war alles Routine.
Gegen neun Uhr gerät das deutsche Stromnetz zum ersten Mal und für kurze Zeit in eine Schieflage. Plötzlich fehlen 2000 Megawatt, die Leistung von knapp zwei Atomkraftwerken. Wie vorgesehen reagieren Computer automatisch. Pumpspeicher- und Gastturbinenkraftwerke werden hochgefahren, sie stellen die Balance innerhalb weniger Minuten wieder her.
Born ist irritiert, aber nicht besorgt. Er vermutet, dass der Stundenwechsel für das Ungleichgewicht gesorgt hat. Zur vollen Stunde fahren manche Kraftwerke hoch, andere runter, nach Fahrplänen, die täglich verschickt und nötigenfalls viertelstundenweise aktualisiert werden. So kommt es regelmäßig zu kurzen, aber deutlichen Schwankungen im Netz, wenn einige Kraftwerke ihre Leistung bereits reduziert haben, andere aber noch nicht ganz hochgefahren sind.
Üblicherweise verschwinden solche Schwankungen wenige Minuten nach dem Stundenwechsel. Am 12. Juni aber geschieht das nicht. Auch um 9.30 Uhr und in der folgenden Viertelstunde fehlen immer noch 1556 Megawatt, die weiterhin von schnell reagierenden Kraftwerken ins Stromnetz gespeist werden.
Gegen 9.45 Uhr fehlen weitere 290 Megawatt, »was ungewöhnlich war«, sagt Born.
Störungen im Stromnetz gibt es immer wieder, alles andere wäre auch verwunderlich. Das deutsche, erst recht das europäische Netz ist groß und komplex – es ist unmöglich, dass alle seine Teile immer einwandfrei funktionieren.
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Oft werden Unregelmäßigkeiten von Computern in wenigen Sekunden oder Minuten entdeckt und ausgeglichen. Am 12. Juni 2019 aber ist das anders. Das Netz kann nicht in Sekunden und auch nicht in Minuten wieder ins Gleichgewicht gebracht werden. Im Gegenteil, es gerät weiter aus der Balance.
Eine Viertelstunde später, um zehn Uhr, fehlen weitere 600 Megawatt im deutschen Netz. Born hat keine Erklärung dafür. Keine Störung, keinen Ausfall eines Kraftwerks.
Eine weitere Viertelstunde später sind erneut 570 Megawatt verschwunden, einfach so. »Das hatte nichts mehr mit dem Alltagsgeschäft zu tun«, sagt Born. Er ist nun ernsthaft besorgt.
Die ersten beiden Verteidigungslinien, die das Stromnetz schützen, sind bereits aktiviert worden. Verteidigungslinie Nummer drei, die Minutenreserve, hat Born ebenfalls eingeschaltet. Von 10.15 Uhr an hat er die verfügbare Reserve von 1006 Megawatt komplett ins Netz gedrückt.
Aber das Netz steht nach wie vor beunruhigend schief, und Born beginnt, über die Aktivierung der vierten Verteidigungslinie nachzudenken.
Große Energieverbraucher, Aluminiumhütten etwa, können aus dem Netz geworfen werden, ohne Vorwarnung, aber unter zuvor ausgehandelten Bedingungen. Der Vorteil dieser Maßnahme: Sie entlastet das Netz schnell und spürbar. Der Nachteil: Born darf jede Anlage nur einmal am Tag vom Netz trennen und höchstens für eine Stunde. Die Lastabschaltung ist so etwas wie der Joker der Ingenieure.
Die einzige Alternative dazu: Born könnte an der Strombörse in Paris, am Spotmarkt, Strom kaufen, aber der stünde frühestens in fünf Minuten zur Verfügung, vielleicht auch erst in einer Viertelstunde. Große Verbraucher lassen sich dagegen in Zehntelsekunden aus dem Netz werfen.
Born kann allerdings nicht wissen, in welchem Zustand das Netz in fünf Minuten sein wird. Ob es besser dasteht oder noch schlechter. Er weiß nicht, ob er diese fünf Minuten hat, um an der Börse Strom zu kaufen. Er zieht seinen Joker.
Unter anderem trifft es Produktionslinien der Trimet-Aluhütte in Nordrhein-Westfalen, die allein rund ein Prozent des Stroms aus dem deutschen Netz ziehen. Um 10.16 Uhr blinkt es rot auf dem Störmonitor einer Leitwarte der Hütte. Acht weitere Male werden an diesem Mittwoch Störmonitore in unterschiedlichen Werken Eingriffe von Amprion in den Produktionsprozess melden.
Das Beunruhigende für Born: Es ändert nichts. Das Stromnetz steht weiter schief, die Frequenz liegt unter 50 Hertz.
Nur eine Viertelstunde, nachdem Born die ersten Hütten aus dem Netz geworfen hat, beginnt er damit, Angebote am Spotmarkt in Paris einzustellen.
Er will 500 Megawatt kaufen, der Strom soll bis 10.30 Uhr geliefert werden und für eine halbe Stunde zur Verfügung stehen. Born hofft, dass das Netz sich in dieser halben Stunde stabilisieren wird.
Die Computer der Börse vermitteln ihm einen Handelspartner, anonymisiert, Born weiß nicht, von wem er kauft.
Einzelne Käufe kosten ihn bis zu 1300 Euro pro Megawattstunde. Ein irrsinniger Preis.
Er weiß aber, was er zahlt: 153,99 Euro pro Megawattstunde, gut das Vierfache des üblichen Preises. Das ist keine gute Nachricht. Die 500 Megawatt sind so teuer, weil Strom an diesem Morgen knapp ist in Europa.
10.30 Uhr: Mittlerweile fehlt im deutschen Netz die Leistung von etwas mehr als drei Atomkraftwerken, aber die Frequenz, immerhin, steht noch bei ziemlich genau 50 Hertz. Born kauft erneut an der Börse, viele Male, 500 Megawatt etwa für die Viertelstunde zwischen 10.45 Uhr und 11 Uhr und noch einmal 500 Megawatt für die Stunde zwischen 11 und 12 Uhr. Der Preis ist mittlerweile weiter gestiegen: von 154 auf 498 Euro pro Megawattstunde.
10.45 Uhr: Weitere 800 Megawatt fehlen im deutschen Netz. Born kauft weiter an der Börse, hektischer, zu immer höheren Preisen. Einzelne Käufe kosten ihn bis zu 1300 Euro pro Megawattstunde, ein irrsinniger Preis.
Noch immer ist unklar, wieso diese immensen Mengen im Netz fehlen. Born ruft Vertreter der anderen deutschen Netzbetreiber zu Telefonkonferenzen zusammen. Sie sollen klären, von wo, wann und in welcher Menge Notreserven aus den Nachbarländern ins deutsche Netz gepumpt werden können.
Die Konferenzen dauern kaum länger als fünf Minuten. Das Ergebnis: Aus den Niederlanden können ab 11.15 Uhr etwa 340 Megawatt geliefert werden, aus Dänemark ab 12 Uhr etwa 500 Megawatt. 200 Megawatt ab 11.30 Uhr aus Tschechien, 350 Megawatt ab 12 Uhr aus Polen.
Unter dem Strich stehen in den kommenden 75 Minuten 1490 Megawatt Notreserve aus dem Ausland zur Verfügung. Zur Stabilisierung des Netzes sind allerdings inzwischen 3000 Megawatt nötig, das Doppelte.
Um kurz nach 11 Uhr geschieht das, was Born verhindern muss: Die Netzfrequenz sackt ab, um mehr als 50 Millihertz. Ein Einbruch, der auch in den 29 Ländern des europäischen Verbundnetzes registriert wird.
Born stellt einen Alarm ins europäische Netz, der Deutschland als Verursacher dieser Abweichung identifiziert. Wenige Minuten später beginnt eine internationale Telefonkonferenz, zugeschaltet sind Netzbetreiber aus der Schweiz, Frankreich, Italien, Spanien – und Amprion aus Deutschland. Born schildert seine Situation. Mittlerweile fehlt die Leistung von fünf Atomkraftwerken im Netz, es wird zunehmend schwieriger, Strom an der Börse zu kaufen, die Ursache der Störung ist nach wie vor unklar. Der Ausnahmezustand dauert nun schon zwei Stunden an. Ein Ende ist nicht in Sicht.
Born braucht jetzt dringend weiteren Strom aus dem Ausland, sonst muss er bald nicht nur Aluminiumwerke, sondern auch andere Verbraucher aus dem Netz werfen. Zunächst würde es Pumpspeicherkraftwerke treffen und Industriebetriebe, dann Haushalte, die öffentliche Infrastruktur. Es droht ein gesteuerter Blackout, der »Brownout«, er soll den unkontrollierten Zusammenbruch des Netzes verhindern.
Nach der Telefonkonferenz sitzt Born vor einer Tabelle, die auflistet, wann wie viel Strom aus dem Ausland nach Deutschland geliefert werden kann: Italien und Spanien haben Hilfe angeboten, außerdem wurde inzwischen ein Kraftwerk in Darmstadt angefahren. Born nimmt, was er kriegen kann.
Zwischen 11.45 Uhr und 12 Uhr fehlen im deutschen Netz 7463 Megawatt, das entspricht der Leistung von sechs Atomkraftwerken. Born hatte zu diesem Zeitpunkt insgesamt nur 5427 Megawatt aufgetrieben, ihm fehlen immer noch 2036 Megawatt. Eine einmalige Situation, nie zuvor fehlten im Netz solch immense Mengen Strom über einen so langen Zeitraum.
Und dann, zum Stundenwechsel um 12 Uhr, balanciert sich das Stromnetz plötzlich aus, wie von Geisterhand. Die Maßnahmen, die Born eingeleitet hat, greifen endlich, nach knapp drei Stunden. Born weiß nicht, warum es ausgerechnet jetzt gelingt, das Netz zu stabilisieren, und es irritiert ihn. Ingenieure sind nicht begeistert, wenn Probleme sich ohne nachvollziehbare Erklärung lösen.
Und die Ursache für all das? Born hat einen Verdacht.
Die Erklärung ist ein wenig kompliziert, sie hängt zusammen mit der Liberalisierung des Strommarktes vor etwas mehr als 20 Jahren. Sie gab den Deutschen nicht nur die Möglichkeit, ihren Stromlieferanten frei zu wählen, sie hat auch einen neuen Beruf geschaffen, den des Stromhändlers. Vor der Liberalisierung wurde der Strom von regionalen Monopolisten verteilt. Nach der Liberalisierung übernahmen das mehr und mehr die Stromhändler.
Aus: DER SPIEGEL 10/2021
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Heute gibt es in Deutschland rund 1000 dieser Händler. Die großen vermarkten mehrere Gigawatt, manche produzieren den Strom auch selbst, die kleinen kümmern sich um nicht mal 100 Megawatt. Der Stromhandel ist eine schnell entstandene, schnell gewachsene Branche. Manche Händler haben zuvor an den großen Wertpapierbörsen gearbeitet.
An der Börse wird Strom genauso gehandelt wie Öl oder Getreide. Man kann ihn ein halbes Jahr vor Lieferung kaufen oder verkaufen; drei Monate, eine Woche, eine Stunde, selbst fünf Minuten vor Lieferung ist es noch möglich, ein Geschäft zu machen. Strom ist zu einem Spekulationsobjekt geworden.
Begrenzt wird die Jagd nach profitablen Abschlüssen von der Pflicht der Händler, jederzeit so viel Strom in ihrem Geschäftsbereich zur Verfügung zu haben, dass sie die Nachfrage verlässlich befriedigen können. Diese »Pflicht zur Ausgeglichenheit« ist das oberste Gebot für die Stromhändler, seine Einhaltung wird von der Bundesnetzagentur überwacht.
Nun kann es aber für Händler, die vor allem Strom aus regenerativen Quellen vermarkten, schwierig sein, die Produktionsmenge genau zu prognostizieren. Manchmal bläst der Wind nicht wie vorhergesagt, manchmal hängen Wolken länger als erwartet über Photovoltaikanlagen. Manchmal ist es deshalb nötig, eine Lücke in der Stromproduktion zu schließen.
Schafft es der Stromanbieter nicht aus eigener Kraft, ist es die Aufgabe von Amprion und drei weiteren deutschen Übertragungsnetzbetreibern, den fehlenden Strom mithilfe von schnell reagierenden Kraftwerken zu liefern. Die Stromhändler müssen für diese Hilfestellung bezahlen.
Am 12. Juni 2019 bereiteten zwei voneinander unabhängige Ereignisse die Bühne für das Drama, dessen Hauptdarsteller Born wurde. Zunächst bewegte sich ein Tief langsamer über Deutschland als prognostiziert, Windparks lieferten weniger Strom als erwartet. Zweitens behinderten Wartungsarbeiten an der Strombörse in Paris den Handel. Beide Vorgänge trieben die Preise an der Strombörse nach oben, bald schon lag der Börsenpreis deutlich über dem Preis der Ausgleichsenergie, die von den Übertragungsnetzbetreibern vorgehalten wird. In der Spitze überstieg der Börsenpreis den Preis für die Ausgleichsenergie um mehr als das Dreifache.
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Die Stromhändler standen jetzt vor folgender Frage: Sollen wir die Lücke, die ein träges Tiefdruckgebiet in unsere Prognosen gerissen hat, durch Strom stopfen, den wir teuer an der Börse kaufen müssen? Oder sollen wir unsere Pflicht zur Ausgeglichenheit vergessen und uns mit der günstigeren Ausgleichsenergie, zur Verfügung gestellt von den Übertragungsnetzbetreibern, rauskaufen lassen aus dem Problem?
Nicht alle Händler, aber immerhin einige, entschieden sich an diesem 12. Juni 2019, Geld zu sparen; sie taten dies unabgesprochen, jeder für sich.
Sie folgten der Logik des Marktes und weigerten sich, Strom zu kaufen, der ihnen unzumutbar teuer erschien. Dass die Händler bei diesem Geschäft erwischt würden, war unwahrscheinlich. Mehrere Millionen Transaktionen werden täglich an den Strombörsen abgewickelt, unlautere Abschlüsse zu identifizieren ist oft mühselige Handarbeit. Im ungünstigsten Fall müssen sich staatliche Kontrolleure wochenlang durch Excel-Tabellen arbeiten, Zeile für Zeile, Spalte für Spalte. Die Händler glaubten wohl, sicher zu sein.
So zumindest beurteilt es die Bundesnetzagentur in Bonn. Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen beugten sich mehrere Wochen lang über die Rohdaten des 12. Juni 2019, um die Händler zu identifizieren, die illegal gehandelt haben sollen. Zahlreiche Firmen wurden verdächtigt, bei fünf Firmen war die Beweislast nach Ansicht der Bundesnetzagentur so erdrückend, dass sie im vergangenen April genannt wurden, weil sie gegen das oberste Gebot ihrer Branche verstoßen hatten.
Die Namen dieser Firmen: Energie Vertrieb Deutschland aus Hamburg, Optimax Energy aus Leipzig, Centrica aus Großbritannien, Danske Commodities aus Dänemark und Statkraft, ein Tochterunternehmen eines norwegischen Staatskonzerns und zugleich einer der größten Händler regenerativer Energien in Deutschland. Vier Firmen haben hingenommen, dass sie von der Bundesnetzagentur abgemahnt wurden. Nur Statkraft hat Beschwerde vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf eingereicht. Die Firma behauptet, dass ihre Stromhändler nicht in der Lage waren, die Situation im Netz korrekt einzuschätzen, auch wegen angeblich falscher Veröffentlichungen der Übertragungsnetzbetreiber. Ob Statkraft und weitere Firmen Bußgelder zahlen müssen, möglich sind bis zu eine Million Euro pro Verstoß, ist noch nicht entschieden.
Sicher scheint immerhin, dass sich die Ereignisse vom 12. Juni 2019 nicht wiederholen können. Als Reaktion auf das dramatische Ungleichgewicht im Stromnetz hat die Bundesnetzagentur die Regeln verändert, nach denen der Preis für Ausgleichsenergie berechnet wird – die Trickserei der Stromhändler dürfte sich seither nicht mehr lohnen. Kritiker werfen der Behörde allerdings vor, zu spät und zu milde gehandelt zu haben. Einzelne Stromhändler sollen sich früher schon ähnlich verhalten haben.
Trotzdem ist es eine Ironie dieser Geschichte, dass ihnen diese Möglichkeit nun genommen wurde – weil sie zu lange zu gierig waren.