Überwachung
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Das Wasser kocht schon
Der Bundestag hat mal wieder neue Überwachungsgesetze beschlossen – warum interessiert das niemanden mehr?
Ein Kommentar von Kai Biermann
6. November 2020, 15:41 Uhr392 Kommentare
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Überwachung: Otto Schily 2001, ein Ehrenmann, der bis heute nachwirkt
Otto Schily 2001, ein Ehrenmann, der bis heute nachwirkt © Nicole Maskus/imago images
Das Wasser kocht schon – Seite 1
Ausgangssperre, Kontaktverbot, Demonstrationsverbot – auch in Demokratien nehmen viele es hin, wenn ihre Freiheit eingeschränkt wird. Zumindest solange es nur für eine klar begrenzte Zeit geschieht und solange sie das Eingesperrtwerden für sinnvoll halten, um ein noch größeres Übel abzuwenden. Die Corona-Pandemie ist das beste Beispiel dafür. Doch eben jene Pandemie zeigt auch, dass die Beschränkungen nicht allzu lange akzeptiert werden: Irgendwann wollen die Menschen ihr gewohntes freies Leben zurück.
Allerdings lässt sich der menschliche Wunsch nach Freiheit überlisten – und genau das ist am Donnerstagabend im Bundestag geschehen. Mit den Stimmen von Union und SPD wurden die seit 2002 geltenden Terrorismusbekämpfungs- und Überwachungsnormen endgültig und unwiderruflich Gesetz.
Als im Januar 2002 das sogenannte Terrorismusbekämpfungsgesetz beschlossen wurde, war das nur möglich, weil die Bundesregierung es mit einem Verfallsdatum versehen hatte. Es war das erste Gesetz überhaupt, das ursprünglich nur fünf Jahre lang gelten und dann entweder neu beraten oder aber ganz auslaufen sollte. Und es wurde damals noch mit einer weiteren Hürde versehen, einem Nachsatz. Nur aufgrund dieses Nachsatzes waren die notwendigen Stimmen im Parlament überhaupt zustande gekommen. Er lautet: "Die Neuregelungen sind vor Ablauf der Befristung zu evaluieren."
Otto-Kataloge
Die neuen Gesetze griffen tief in die Freiheitsrechte ein und erlaubten Polizei und Geheimdiensten zahlreiche neue Überwachungsmaßnahmen, zum Beispiel dürfen sie seitdem Mobiltelefone mit IMSI-Catchern suchen und fangen, bei allen möglichen Unternehmen und Organisationen Daten über alle Bürger abfragen und mehr Kommunikation überwachen. "Otto-Kataloge" wurden sie genannt, denn der damalige Innenminister Otto Schily trieb sie voran und es wurden so viele einzelne Gesetze damit verändert, dass manche sich an den Katalog des Versandhauses erinnert fühlten. Damals schürten sie bei vielen Menschen Angst vor einem Überwachungs- und Polizeistaat.
Diesen Menschen versprach der Nachsatz: Wir überprüfen, ob die Gesetzesverschärfungen den Sicherheitsdiensten wirklich dienen – und ob sie der Gesellschaft vielleicht mehr schaden als nutzen. Aber am Donnerstagabend wurde dieses Versprechen endgültig gebrochen.
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Dreimal hatte die Regierungskoalition die Gültigkeit der sogenannten Otto-Kataloge verlängert, hatte 2007, 2011 und 2015 die Befristung erneuert. Nun ist sie endgültig ausgelaufen. Und die versprochene Evaluierung ist ein Witz (hier zum Nachlesen der Evaluierungsbericht als PDF). Denn sie wurde von der Bundesregierung selbst vorgenommen, also von jenen Gremien, die die schärferen Gesetze forderten. Kritiker wurden in den Ausschüssen des Bundestages zwar angehört, aber nicht erhört. Hingegen durften die davon profitierenden Nachrichtendienste sogar noch ihre Wünsche einbringen. Eine unabhängige Evaluierung beispielsweise durch Universitäten oder Kommissionen gab es gleich gar nicht.
Der Vorgang belegt eine seit Jahren übliche Politik, die ganz bewusst eine menschliche Schwäche ausnutzt.
Blind für schleichende Veränderungen
Plötzliche Änderungen in der Umgebung fallen sofort auf. Corona verbreitete sich rasend schnell. Ebenso schnell wurde vielen die daraus resultierende Gefahr klar. Doch wenn es darum geht, langsame und schleichende Veränderungen unserer Lebensumstände zu bemerken, sind wir wahnsinnig schlecht. Selbst wenn die Auswirkungen in der Summe viel größer sind als die eines plötzlichen Desasters. Der beste Beleg dafür ist der katastrophale Umbau des weltweiten Klimas. An dem arbeitet die Menschheit seit mehr als einhundert Jahren und die meiste Zeit hat es kaum jemanden interessiert. Bis heute wollen viele Menschen einfach nicht glauben, dass sie das Problem betrifft.
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An einem ähnlich schleichenden und letztlich gefährlichen Umbau arbeiten die verschiedenen Bundesregierungen seit Jahren: Fluggastdaten, Kennzeichenscanner, Videoüberwachung, Staatstrojaner, Ausweispflicht bei Mobilfunkkarten, Bestandsdatenauskunft, biometrische Bilder und Fingerabdrücke im Pass und immer wieder die Vorratsdatenspeicherung – und das sind nur einige der Neuerungen aus den vergangenen 18 Jahren.
DAS BESTE AUS Z+:
Karl Lauterbach:
Der Besser-Wisser
Die Bundesregierungen haben das Land Stück für Stück verändert. Sie haben an allen im Grundgesetz verankerten Freiheiten herumgeschnippelt, haben immer wieder hier und dort Stücke weggenommen, haben sie eingeschränkt, kleiner gemacht. Die Argumentation ist dabei immer dieselbe: Wir müssen das tun, um Terroristen zu fangen und/oder Kinderpornografie zu bekämpfen. Wir tun es auch wirklich nur zur Aufklärung dieser wenigen schrecklichen Taten, versprochen. Doch sind die neuen Überwachungsregeln erst installiert, kommt bald die Forderung, sie auf andere Straftaten auszudehnen: Nun haben wir diese neuen Regeln, da wäre es doch Unsinn, sie nicht zu nutzen.
Diese Politik schwächt die Abwehrkräfte der Bürger
Die damit gesammelten Daten werden letztlich jedoch verwendet, um sogar Bagatellen zu verfolgen. Die sogenannte Bestandsdatenauskunft beispielsweise, also die Frage einer Behörde, auf wen eine Telefonnummer registriert ist, wird inzwischen so häufig eingesetzt, dass sie einem dienstlichen Telefonbuch gleichkommt und nicht einem Grundrechtseingriff. Und dann kommt immer auch noch jemand auf die Idee, dass die Überwachungsgesetze dazu dienen könnten, Taten zu verhindern, die noch gar nicht passiert sind. Klappt es nicht beim ersten Mal, wird es später einfach erneut probiert – wie die Vorratsdatenspeicherung zeigt, die trotz aller Verbote durch Gerichte immer wieder gefordert wird.
Allzu viel Widerstand muss ja kaum noch jemand fürchten. Am Anfang ist er groß, doch mit den Jahren wird er immer kleiner. Menschen gewöhnen sich an viel. Irgendwann haben sie vergessen, was sie alles verloren haben. Und genau darauf setzen die Verfechter solcher schrittweisen Freiheitsberaubungen.
Freiheit statt Angst
An den Kreislauf "Terroranschlag – mehr Überwachung – Terroranschlag – mehr Überwachung" hat man sich offenbar bereits gewöhnt. Es gibt kaum noch öffentliche Proteste gegen Überwachungsgesetze – anders als noch vor Jahren, als Zehntausende auf die Straße gingen, um unter dem Motto "Freiheit statt Angst" gegen Vorratsdatenspeicherung, gegen Videoüberwachung oder gegen biometrische Daten im Pass zu protestieren. Dass jetzt auch beschlossen wurde, Fingerabdrücke im Personalausweis zu speichern, hat kaum noch jemanden aufgeregt.
Damit sollen den Verfechtern keine üblen Motive unterstellt werden. Die haben sie bestimmt nicht. Sie wollen oft das Gute. Vor allem aber wollen sie nicht verantwortlich gemacht werden, wenn Terroristen wieder einen Anschlag verüben. Sie wollen sich gar nicht erst fragen lassen müssen, was hätte besser gemacht werden können. Daher beschließen sie lieber Überwachung – sozusagen auf Vorrat. Und lieber gleich mehr davon, als eigentlich gebraucht wird. Gesetze kosten ja auch nicht viel.
Doch verändert diese Politik die Gesellschaft, sie schwächt die Abwehrkräfte der Bürger. Die immer neuen Terrorgesetze haben die Menschen offensichtlich längst mürbe gemacht. Das belegt ausgerechnet die Corona-Pandemie. Einige demonstrieren gegen das Tragen von Masken? Angesichts der tatsächlichen Einschränkungen wirkt das fast lächerlich. Masken schützen und das sofort – sie sind ein harmloser Beitrag, den jeder leisten kann, der sich jederzeit wieder ablegen lässt und der keine Grundrechte beschränkt.
Wann wurde ein Gesetz mal abgeschafft?
Jedoch wurde gleichzeitig beispielsweise verfügt, dass man ständig einen Ausweis dabeihaben muss. Dass man nicht mehr auf Parkbänken sitzen darf. Dass die Polizei ohne richterlichen Beschluss in Wohnungen eindringen darf, um zu kontrollieren, wie viele Menschen sich dort aufhalten. Darüber aber regt sich kaum noch jemand auf. Gäbe es nicht ein paar wenige Bürgerrechtsgruppen und Juristen, die dafür sorgen, dass Gerichte so etwas überprüfen, hätten solche nahezu willkürlichen Anordnungen Bestand. Überhaupt sind es inzwischen nur noch die Gerichte, die die Freiheit verteidigen.
In der Politik ist die Forderung nach mehr Freiheit aus der Mode gekommen. Es geht nur noch um Sicherheit. Wann wurde das letzte Überwachungsgesetz abgeschafft, weil man es nicht mehr brauchte? Oder weil es völlig nutzlos, ja, im Gegenteil sogar gefährlich war?
Um diesen Gewöhnungseffekt zu illustrieren, wird gern das Bild vom Frosch im langsam heißer werdenden Wasser bemüht. Doch das Bild ist falsch, suggeriert es doch Hilflosigkeit. Die Tiere können in dieser Metapher nichts dafür, dass das Wasser heißer wird, sie sind Opfer. Menschen jedoch haben die Fähigkeit, ihre Umwelt aktiv zu gestalten. Sie müssen es nur wollen.
Quelle: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-11/ueberwachung-terrorismusgesetz-fingerabdruecke-ausweis-freiheit