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«Der andere Blick»: Deutschlands Umgang mit dem Migrationspakt zeugt von geistiger BequemlichkeitDer demokratische Diskurs in Deutschland wirkt dieser Tage wieder einmal eigentümlich verkrampft. Viele Befürworter des Uno-Migrationspakts verteidigen diesen in einem plumpen Anti-AfD-Reflex. Dabei hat der Pakt beträchtliche Schwächen.
In Deutschland war der Uno-Migrationspakt lange kein Thema. Erst als der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz dem Pakt seine Unterstützung entzog, entstand eine aufgeregte öffentliche Diskussion. Zu Recht verlangte die AfD eine Debatte im Parlament. Die deutsche Regierung hatte zuvor geglaubt, sie könne den Migrationspakt einfach diskussionslos genehmigen – in der Annahme, dass kein vernünftiger Mensch etwas dagegen einzuwenden habe.
Die Diskussion um den Migrationspakt entlarvte einmal mehr die intellektuelle Bequemlichkeit im Deutschen Bundestag. Viele Parlamentarier glauben, mit einem Anti-AfD-Reflex seien sie für solche Debatten hinreichend gerüstet. Sie täuschen sich.
Die einstündige Debatte zum Migrationspakt im Bundestag offenbarte die Argumentationsarmut der Gegner der AfD. Deren Chef, Alexander Gauland, nahm den Pakt und dessen angebliche Unverbindlichkeit auseinander. Am Ende übertrieb er dann aber gewaltig: «Linke Träumer und globalistische Eliten wollen unser Land klammheimlich aus einem Nationalstaat in ein Siedlungsgebiet verwandeln.» Es klang nach Verschwörungstheorie. Die meisten Redner der anderen Parteien waren trotzdem unfähig, die AfD auch nur annähernd inhaltlich zu stellen. Sie machten einen entscheidenden Fehler: Sie nahmen die Sache nicht ernst. Argumente, glaubten sie offenbar, seien gar nicht notwendig, weil der Segen des Migrationspakts ja evident sei. Frank Steffel von der CDU sagte: «Wer zustimmt, dient Deutschland, und wer plump ablehnt, schadet Deutschland» – so einfach ist das. Für Claudia Moll von der SPD war die ganze Veranstaltung ein einziges Debakel: «Ich schäme mich so etwas von fremd, dass wir diesen Antrag in diesem Haus besprechen müssen.»
Die meisten Redner liessen sich vom Grundsatz leiten: Wenn ich nicht auf der Seite der AfD stehe, stehe ich auf der richtigen Seite – dementsprechend ist es nicht notwendig, den Gegenstand genauer zu untersuchen. Auch auf anderen politischen Feldern gibt es in Deutschland überparteiliche Leitlinien, die dazu führen, dass in der Öffentlichkeit vieles gar nicht erst hinterfragt wird. Der Euro ist eine Notwendigkeit, die EU bedeutet Friede, der Migrationspakt ist ein segensreiches Werk der Weltgesellschaft – was gibt es da noch zu diskutieren?
In einer solchen Atmosphäre gehört ein Politiker wie Jens Spahn (CDU) schon zu den Mutigen; und dies, obwohl er den Migrationspakt nicht einmal kritisiert hat. Er bemängelte lediglich die fehlende Kommunikation. Spahn sagte, es sei der «fatale Eindruck» entstanden, die Regierung habe etwas zu «verheimlichen». Dem Migrationspakt solle nicht zugestimmt werden, solange das Thema «mit der Bevölkerung nicht geklärt» sei. Zwei Dinge waren daran interessant. Erstens: Wer wie Spahn über ein internationales Papier auch nur diskutieren will – wie es in Demokratien nicht ungewöhnlich ist –, wird in die AfD-Ecke gestellt und exkommuniziert. Die deutsche Justizministerin Katarina Barley schrieb: Wer den Migrationspakt nicht verabschieden wolle, suche die Nähe zu AfD, Trump, Orban und Kurz.
Zweitens ist die Wortwahl von Spahn durchaus typisch für deutsche Politiker: Er will die Sache mit der Bevölkerung «klären». Er sagt gewissermassen nichts anderes als: «Lasst uns noch ein bisschen reden, und dann willigen wir ein.» Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass Politik nur «besser erklärt» zu werden brauche und die Menschen «mitgenommen» werden müssten – beides konnte man auch während und nach der Flüchtlingskrise oft hören. Zeichnen sich in Deutschland zwischen einem grösseren Teil der Bevölkerung und der politischen Elite Meinungsverschiedenheiten ab, glaubt Letztere, es liege einzig daran, dass diesen Leuten die Politik nicht recht erklärt wurde. Die gar nicht einmal so kühne Vermutung hingegen, dass diese Menschen einfach eine andere und auch wohlbegründete Meinung haben könnten, scheint man nicht zu haben.
Der demokratische Austausch in Deutschland wirkt daher auf Aussenstehende eigentümlich verkrampft. Bei vielen deutschen Spitzenpolitikern paart sich obrigkeitsstaatliches Denken mit einer Sozialarbeiterattitüde. Die Maxime lautet: regieren und erklären. Spahns Intervention beim Migrationspakt war letztlich eine Spielart davon; denn auch er wagte es kaum, den Pakt inhaltlich zu kritisieren.
Dabei hat der Migrationspakt einige Komponenten, die sehr wohl zu hinterfragen wären – gerade aus deutscher Sicht. Der Pakt geht zurück auf eine Idee, die mit der europäischen Flüchtlingskrise entstanden ist. Trotzdem fällt auf, dass ein Teil der Diskussionen, die in Europa in den vergangenen Jahren geführt wurden, an dem Werk spurlos vorbeigegangen zu sein scheinen. Europa diskutierte über Terror, Parallelgesellschaften und die schwierige Integration von Muslimen, die zum Teil den liberalen Geist der westlichen Gesellschaft infrage stellen. Wer den Migrationspakt liest, glaubt, all diese Probleme gäbe es gar nicht. Migration sei «eine Quelle des Wohlstands, der Innovation und der nachhaltigen Entwicklung», wird schon in der Einleitung festgestellt.
Im Pakt geht es vor allem um die Frage, was Einwanderungsländer tun müssen, um Migration weniger gefahrvoll und angenehmer zu gestalten. Viele Punkte sind auch sinnvoll: Verhinderung illegaler Migration, Ausstellung von Pässen, Erleichterung von Visa, schnellere Anerkennung von Arbeitszeugnissen, Bekämpfung von Schleuserkriminalität und Menschenhandel. Was in dem Vertrag aber kaum vorkommt, ist die Vorstellung, dass bei der Migration die Hauptleistung von den Migranten selbst erbracht werden muss. Im Wesentlichen sind es die Migranten, die sich an die Mehrheitsgesellschaft anpassen müssen.
Im Migrationspakt klingt das anders: Ein «nichtdiskriminierender Zugang» zu Gesundheitsstellen müsse gefördert werden, «Kommunikationshindernisse» müssten abgebaut werden, es brauche «geschlechtersensible Vereinbarungen zur Arbeitskräftemobilität»; Ärzte und Grenzbeamte müssten «geschlechtersensibel» vorgehen und in «kultureller Sensibilität» geschult werden. «Geschlechtersensible, berufsausbildende und der bürgerschaftlichen Integration dienende Kurse und Workshops» sollten entwickelt und gefördert werden. Die Devise lautet überall: Helfen und ja nicht diskriminieren! Aber was bedeutet das genau? Die «Bild»-Zeitung fragte nicht zu Unrecht: «Heisst das, kein männlicher Zahnarzt darf eine Migrantin behandeln? Und kein Grenzer bei der Passkontrolle den Schleier einer muslimischen Frau lüften?»
Viele Stellen bleiben uneindeutig. Ohne den Migrationspakt literarisch nobilitieren zu wollen (er liest sich nämlich schlecht), verhält es sich mit der Lektüre ein bisschen wie mit der Bibel: Jeder findet hier Stellen und Anliegen, die gefallen, und andere, die weniger gefallen. In der Summe klingt der Migrationspakt aber doch wie die Förderung einer Multikulti-Gesellschaft: Die Staaten sollen sich primär den Einwanderern und ihren Bedürfnissen anpassen und nicht umgekehrt. Zwar richtet sich der Pakt gegen eine «Viktimisierung» der Einwanderer, implizit erklärt er sie aber selber ständig zu Opfern und Diskriminierten.
Der Geist dieses Werks kommt vor allem beim Thema Medien zur Geltung. Die Unterstützer des Migrationspakts sollen einen Diskurs fördern, «der zu einer realistischeren, humaneren und konstruktiveren Wahrnehmung von Migration und Migranten führt». Medienschaffende sollen hinsichtlich «Migrationsfragen und -begriffen» sensibilisiert werden. Es klingt nach der Förderung einer Art Willkommenskultur. Dafür sind Staaten nicht zuständig. Gerade an diesem Punkt wurde in Deutschland bisher kaum Anstoss genommen. Dabei sind die deutschen Journalisten sonst durchaus sensibel, wenn es um die Medienfreiheit geht.
Es gibt also gute Gründe, den Migrationspakt kritisch zu sehen. Umso mehr, als er so verdächtig unverbindlich daherkommt. Zwar sammelt der Migrationspakt auf 34 Seiten Verpflichtungen, aber schon zu Beginn gibt er eine Entwarnung: Es handle sich um einen «rechtlich nicht bindenden Kooperationsrahmen». Wer dem Pakt zustimme, behalte das Recht, die nationale Migrationspolitik selbst zu bestimmen. Mit gutem Grund fragen sich viele: Wieso soll dem Pakt dann beigetreten werden?
Die Befürworter sprechen von einem «Meilenstein», der Anfang Dezember in Marrakesch verabschiedet wird. Die Gegner glauben, dass der Pakt zusätzliche Menschenströme in Bewegung setze. Vermutlich sind beide Annahmen falsch. Dem Migrationspakt dürfte gerade deshalb wenig Bedeutung zukommen, weil er sich in einem sozialpädagogischen Klein-Klein verliert, das fern von der Realität und den Nöten der meisten Befürworterstaaten ist. Zehn Regeln zum Umgang mit Migration auf einer A4-Seite hätten vermutlich mehr bewirkt. Die Wahrheit ist wohl: Egal wie sich ein Staat zum Migrationspakt stellt, er vergibt sich damit nichts.
Wer eine Diskussion zum Migrationspakt aber grundlegend abklemmt, schadet der Demokratie.
Quelle:
https://www.nzz.ch/international/deutschland/migrationspakt-deutschlands-umgang-zeugt-von-bequemlichkeit-ld.1439009