Also gleich vorab: Ja, ich stehe der Kernenergie völlig offen gegenüber und würde auch für deren Nutzung stimmen. Ich finde einen Eisbrecher mit 80000 Atom-PS eine feine Sache. Sollte es dafür Alternativen geben, ich wäre auch dafür offen. Und auch atomar angetriebene U-Boote machen Sinn. Bei der zivilen Nutzung sehe ich die Risiken insgesamt im Bereich des Machbaren, der Müll ist natürlich ein Problem. Insofern er nicht "andersweitig" weiterverarbeitet werden kann. Aber ich bin nicht ideologisch verbohrt, ich möchte und würde immer abwägen, bin stets für Alternativen ansprechbar.
Deshalb gleich die Beantwortung einer anderen Frage von dir.
Den taz Artikel hatte ich damals bestimmt gelesen, schließlich war ich lange Abonnent der tageszeitung. Auf Grund der zunehmend tendenziösen Berichterstattung und der trolligen Kommentare (nicht durch die Leser) lasse ich das Abo seit zwei Jahren ruhen und ziehe mir andere Blätter rein. Nein, nicht BILD. Gut, ab und zu schaue ich schon nochmal in die taz rein, zugegeben. Aber danach muß auch gleich die NZZ her, als geistiger Ausgleich sozusagen.
Und auch noch vorweg: meine Idealvorstellungen wären natürlich so gelagert, daß man den Energiebedarf für privat und für die Industrie komplett aus regenerativen Ressourcen decken kann. Wahrscheinlich auch so ein Traum der Menschheit. Den Wind gibt es umsonst. Die Sonne, die schätzungsweise noch für ~ min. 10 Milliarden Jahren Wasserstoff enthält, um die Fusion zu Helium aufrecht zu erhalten und uns somit mit ihrer Strahlung zu beglücken, bleibt vorerst an ihrem Platz. Dann gibt es Geothermie, es gibt Wasserkraft et cetera. Alles keine Frage.
Dazu gibt die Idee mit dem Wasserstoff (hmm, naja, da bin ich uneins und skeptisch), es gibt die Forschung zur Kernfusion usw.
Aber momentan ist das schlicht nicht der Fall. Und das wird auch in 10 Jahren oder in 20, 30 Jahren nicht der Fall sein.
Und wenn du schon auf ein schwindendes Vertrauen in den deutschen Staat, auf die Trägheit von Großprojekten et cetera anspielst, wo du selbstverständlich meine vollkommene Zustimmung hast - gibt es irgend einen Hinweis darauf, daß das, also ausgerechnet das beim Ausbau der regenerativen Energien anders sein wird? Die Erfahrungen der letzten Jahre, Jahrzehnte zeigen doch genau die gleiche Schwermut, die gleiche Trägheit.
Das Kabinett "Schröder I", also Rot-Grün, hatte 2001 den allmähliche Atomaustieg beschlossen. Die Novelle trat 2002 in Kraft, das ist 20 Jahre her.
Schwarz-Gelb unter Merkel hatte 2011 in einer Art Panikreaktion auf Fukushima innerhalb von nur wenigen Tagen nach dem Ausstieg vom Austieg aus der Atomernergie den Ausstieg beschlossen. Das ist 11 jahre her. Seit 2019 stagniert der Ausbau von Windkraftanlagen nicht nur, er geht sogar zurück. Dabei müßte der Ausbau massiv in die Höhe gehen. Laut Claudia Kemfert um das Vier- bis Fünffache. Ich sehe weder den massiven Entwicklungsschub in der Batteriespeicherforschung, noch sehe ich überall die Wasserstoffturbinen. Es tut mir ja leid, bisher waren das alles mehr oder minder Sprüche.
Also ja, rein theoretisch hätte man innerhalb der letzten 20 Jahre auch nach finnischen oder französischen Zeitmaßstäben etliche Kernkraftwerke fertig stellen können und wäre argumentativ gegenüber Kohle und Gas deutlich besser aufgestellt. Aber ich bin da andererseits realistisch. In Deutschland werden in Zukunft mit an 99% grenzender Wahrscheinlichkeit keine neuen AKW's auf Basis der bisher vorherrschenden Reaktortechnologien mehr gebaut.
Wenn man bedenkt, daß der Energiebedarf in Zukunft noch ansteigen wird, ob nun um 10% bis 2030 oder um ein Viertel bis 2040, dann sehe ich persönlich hier keinerlei Anzeichen für die Erfüllung der Ziele noch zu meinen Lebzeiten ohne eine Brückentechnologie. Und wir sind uns ja wohl einig, daß man in DE auch die energieintensive Wirtschaft (Chemie, Stahl, Baustoffe, Papier etc.) sowie die zunehmend energieverbrauchende IT-Infrastruktur nicht einfach mal kurz abschalten und bei 120% Wind und Sonne inkl. der Speicher wieder anschalten kann.
Wir brauchen also noch irgendwas anderes. Aber warum muß es Kohle sein? Übrigens auch subventioniert. Warum Gas? Gas hat meiner Meinung nach die vier- oder fünfache Emission an CO2 wie Atom. Und weshalb noch 18 Jahre lange Kohle verbrennen? Das leuchtet mir eigentlich nicht ein. Warum nicht die bestehende Kernenergie solange nutzen und nach Möglichkeit weiterentwickeln, um ein höheres Maß an Sicherheit zu erreichen und vielleicht auch ein höheres Maß an Energiegewinnung, um die Abfälle zu reduzieren? Bei der Entscheidung zwischen Pest und Corona würde ich mich für die Pest entscheiden, bis diese nicht mehr benötigt wird.
Wenn wir argumentieren, daß es in Sachen "Klimawandel" bereits 5 nach 12 ist, daß wir also eher gestern als heute, aber schon gar nicht erst morgen mit der Reduktion der Kohlendioxidemissionen beginnen müssen,falls wir die globale Erwärmung bei unter bzw. ~1,5°C stoppen wollen, insofern das überhaupt noch zu erreichen ist, warum sollte wir aus logischer Sicht weiter mit Kohle und Gas arbeiten? Kernenergie ist sicher nicht unproblematisch, aber dennoch deutlich emmisionsärmer. Kernenergie ist sicher nicht billig, was Bau und Planung angeht, was die Subventionen betrifft. Aber ein weiterer Ausstoß von CO2 und die damit verbundenen weltweiten Probleme sind noch viel teurer, wenn sie überhaupt jemals in Geld aufzurechnen sind.
Und selbstverständlich ist der Atommüll ein Problem. Ich kenne auch niemanden, der jemals etwas anderes behauptet hätte. Aber der bisher angefallene ist eh da. Der verschwindet mit dem Austieg nicht, der bleibt. Investition in Kernenergie bedeutet für mich nicht automatisch nur Bau, es bedeutet auch Forschung. Forschung ist nicht verwerflich sondern logisch und dient in den allermeisten Fällen auch der Verbesserung bisheriger Technologien. Warum sollte es nicht möglich sein, auch hier - bei der Müllverwertung, Fortschritte zu machen.
Wo allerdings Industrien abgebaut werden bzw. verschwinden, verschwindet allmählich auch die Forschung, die Entwicklung, weil die Finanzierungen irgendwann ausbleiben.
Was die Sicherheit angeht...
Ich halte die Kernenergie für relativ sicher im Rahmen dessen, was man an Risiken beachten muß und bereit ist einzugehen. Um uns herum sind offenbar viele Länder bereit, diese Riskiken in Kauf zu nehmen. Sind die alle blöd? Würde ich nicht sagen, eher realistisch. Und beherrschbar ist die Kernenergie in der Regel auch. In der Regel bedeutet natürlich, daß es auch Ausnahmefälle geben kann. Und ja, natürlich ist es eine Tatsache, daß bei Versagen und Fehlbedienung, bei Störfällen und/oder bei einem Gau der Rahmen der Zerstörung und der Schäden für Mensch und Umwelt erheblich sein kann.
China arbeitet derzeit bsw. an einem Thorium- bzw. Salzschmelzenreaktor. Hier sind schonmal plötzlichen Leistungsexkursion, wie sie beim Reaktor in Tschernobyl nach einer Verkettung von Fehlern auf konstruktionstechnicher Seite und falscher(oder eigentlich richtiger?) Bedienung auftraten und letztendlich zur Katastrophe führten, nicht möglich. Auch eine Dampfexplosion ist nahezu ausgeschlossen, da man mit dem Druck der Atmoshäre arbeitet.
Was dann zur Folge hat, daß erst gar keine Windräder gebaut werden?
Verstehe ich - oder auch nicht. Wenn niemand die Dinger haben will, jedenfalls nicht im Vorgarten, woher soll die Energiewende dann kommen?
Berlin sticht da schon heraus oder hast du spontan ein Verkacken ähnlichen Ausmaßes im Kopf?
Wenn Projekte aber politisch gewollt sind, kann man eine solche Frage schon vorab beantworten.
Beim BER waren die Fachleute selbst in der Wahl des Standorts völlig unterschiedlicher Meinung, die größten Chancen hatte damals eigentlich Sperenberg als Standort. Nützt aber nichts, auch hier hat sich die Politik durchgesetzt. Ohne Beteiligung kommt man da nicht weiter.
Ob ich ein Verkacken ähnlichen Ausmaßes im Kopf habe?
Hmm, die Oper von Sydney war bei ihrer Eröffnung 15mal so teuer wie veranschlagt. Die Bauzeit betrug 14 Jahre...
Die Baukosten der Concorde waren 12mal so hoch wie die Schätzungen vorab.
Es gibt sicher noch weitere Beispiele.
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Nachtrag:
Olkiluoto-3 scheint wohl fertig und wurde hochgefahren.
Auf die Schnelle...: https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/klima-nachhaltigkeit/finnland-eroeffnet-neuen-atomreaktor-in-olkiluoto-17695250.html
Fridays for Future in Finnland meint dazu:
Atomkraft ist keine perfekte Option, aber sie ist emissionsarm. Eine ernstere Bedrohung als Atommüll sind unserer Meinung nach Kohlendioxidemissionen, die die Temperatur unseres Planeten erhöhen. Deshalb sind wir bereit, Kernenergie als Teil der Energiepalette zu akzeptieren. Jetzt ist nicht die Zeit, eine emissionsarme Energiequelle ganz auszuschließen, aber wir brauchen alle uns zur Verfügung stehenden Mittel, um die Klimakrise zu bekämpfen. Der Widerstand gegen die Atomkraft verkompliziert und vergrößert den ohnehin schon enormen Umfang der Arbeit. Wenn wir die Erderwärmung auf unter 1,5 Grad stoppen wollen, brauchen wir dafür alle erdenklichen Mittel – einschließlich Atomkraft. Der Vorteil der Kernkraft kann auch auf die große Energiemenge zurückgeführt werden, die ein einzelnes Kernkraftwerk produzieren kann.
https://www.fridaysforfuturefinland.fi/2021/12/22/ydinvoiman-puolesta-fossiilikaasua-vastaan/
Man sieht, auch innerhalb einer "Bewegung" gibt es deutlich unterschiedliche Auffassungen. Und das ist auch gut so.